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Angst vor dem Volk?

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Zum 1. August 2011

In den vergangenen Jahren sind entgegen jahrzehntelanger Erfahrungen ein paar Volksinitiativen wie wie die Verwahrungs-, die Ausschaffungs- und die Minarett-Initiative von Volk und Ständen angenommen worden. Überfällig ist der Urnenentscheid zur Abzocker-Initiative. Und rechtzeitig zum 1. August 2011 und auch zu den eidg. Wahlen vom Oktober lanciert nun die SVP ihre Volksinitiative „Masseneinwanderung stoppen!“, die nach heutiger Beurteilung alles andere als chancenlos ist.

Persönlich bin ich bei der Abzocker-Initiative unglücklich, weil sie sich nur schlecht umsetzen läßt und in der Wirtschaft unabsehbaren Schaden hinterlassen dürfte. Bei allen andern Initiativen war ich ein Gegner, weil sie entweder nicht wirklich umsetzbar sind oder eigentlich ein ganz anderes Ziel verfolgten, als von den Initianten vorgegeben wurde. Und die neue SVP-Initiative, bei der im Zentrum die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU steht, würde für unsere Wirtschaft und unser ganzes Land verheerende Folgen nachsichziehen.

Es ist eine neue Entwicklung, daß Volksinitiativen echte Chancen auf Annahme haben. Das hat nun verschiedene Kritiker auf den Plan gerufen. Da ist zunächst der Club hélvétique zu erwähnen. Hier handelt es sich vornehmlich um Rechtsgelehrte und Professoren, die davon überzeugt sind, daß  s i e  es wissen, wie es gehen müsse – und nicht etwa das thumbe Volk. Von diesen Kreisen wird die Einführung eines schweizerischen Verfassungsgerichts verlangt. Zum Glück gibt es auch Staatsrechtslehrer und ehemalige Bundesrichter, die vor dem Richterstaat warnen. Und davor ist zu warnen, denn die Politik hat in den letzten Jahren immer mehr Probleme von sich weg- und zur Gerichtsbarkeit hingeschoben. Probleme, die keine richterliche sondern eine politische Antwort benötigen! Und Gerichte haben auch nicht immer brilliert.

In dieser Linie ist es nur logisch, daß allmählich die Politiker selbst nach dem Verfassungsgericht rufen. Unlängst auch die Zürcher EVP-Nationalrätin Ingold. Sie und verschiedene Andere, die sich offenbar vor dem Volk fürchten, beginnen den Mehrheitsentscheid an der Urne mit dem Grad der Stimmbeteiligung zu relativieren. Sie merken dabei nicht, daß sie damit ein Axiom unserer direkten Demokratie zur Disposition stellen. Oder sie wollen es sehr bewußt herbeireden. Sie geben jenen (meist linken) Kreisen recht, die jeden verlorenen Volksentscheid immer genau damit negieren wollen. Nebenbei: Selbstverständlich loben aber die gleichen Kreise jedesmal die Weisheit des Volkes, wenn ihr Anliegen eine Mehrheit bekommen hat.

Man kann das Momentum der Stimmbeteiligung tatsächlich als einen Schwachpunkt der direkten Demokratie ansehen. Gerade deshalb ist es so wichtig, daß das erwähnte Axiom gilt und nicht in Frage gestellt wird! Weshalb?

Natürlich könnte man diesen Schwachpunkt aufheben, indem man festlegt, daß ein Entscheid nur dann rechtsgültig zustande gekommen ist, wenn die Zustimmung ein bestimmtes Quorum erreicht hat. Welche Probleme das aufwirft und welche Bürgerfrustrationen ausgelöst werden, kann man an Volksentscheiden in deutschen Bundesländern studieren, bei denen ein solches Quorum erforderlich ist. Um allen unnötigen Diskussionen den Boden zu entziehen, müßte bei uns ein solches Quorum konsequenterweise verlangen, daß mehr als 50 % der Stimmberechtigten zugestimmt haben. Aber damit wird unsere direkte Demokratie gleichsam liquidiert. Ich weiß nicht, ob je in einer eidgenössischen Abstimmung eine Zustimmung von mehr als 50 % der Stimmberechtigten überhaupt erreicht wurde. Bei kantonalen Abstimmungen sieht die Stimmbeteiligung meistens noch schlechter aus als bei Bundesabstimmungen. Und die Gemeindeversammlungen müßte man quer durchs Land auch abschaffen! Selbst bei National- und Ständerat sieht das nicht immer erhebend aus. In vielen Schlußabstimmungen wird im Nationalrat das Quorum von 101 zustimmenden Nationalrätinnen und -räten nicht erreicht, weil viele Herrschaften am letzten Sessionstag bereits anderem nachgehen.

Das Axiom „Mehrheit der Stimmenden“ kann und darf nicht durch die Regel „Mehrheit der Stimmberechtigten“ ersetzt werden, denn dann funktionieren unser Staatswesen und unsere Gesellschaft nicht mehr richtig.

Als ganz besonders originell sind die Diskussionsbeiträge von Parlamentariern zugunsten eines Verfassungsgerichts zu werten, denn sie müßten es eigentlich am besten wissen und hätten es am allerbesten in Händen, andere Resultate herbeizuführen. So liest sich ja die Ingoldsche Geschichte von der „nötigen gesetzlichen Schranke zum Schutz der übergeordneten Wertehierarchie“ wunderbar. Als Bundesparlamentarierin müßte es ihr jedoch geläufig sein, daß es in unserem System diese geschützte Wertehierarchie gibt. Festgelegt ist sie in der Bundesverfassung. Nun kennt die Schweiz aus guten Gründen keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Zu diesen Gründen gehört nicht nur der „Souveränitätskonflikt“ zwischen Volksentscheid und Verfassungsnorm. Es gehört auch der Konflikt zwischen der „Parlamentssouveränität“ und der Verfassungsnorm dazu. Wieso das? Wenn es zu keiner Volksabstimmung kommt, nimmt effektiv das Parlament die Souveränität an Stelle des Volkes wahr. Doch dahinter steht immer noch das Volk, weil  jedes Bundesgesetz grundsätzlich dem Referendum ausgesetzt ist. Damit haben wir – ohne Referendumsabstimmung an der Urne – zusätzlich auch eine stillschweigende Volkszustimmung. Der Club hélvétique und gewisse Politiker, die lieber ohne das Volk politisieren würden, reklamieren nun, daß solche erfolgreichen Initiativen das Verfassungs- und auch zum Teil das Völkerrecht verletzten. Ich bin mir sicher, daß das Bundesparlament seit Bestehen der heutigen Eidgenossenschaft weit mehr Verletzungen des in der Verfassung definierten „übergeordneten Wertesystems“ veranstaltet hat als das Volk mit Initiativ-Entscheiden. Zur Erinnerung: Die allermeisten Volksinitiativen sind an der Urne gescheitert!!

Für mich ist es schönfärberisch und auch billig, wenn ausgerechnet Mitglieder der Eidgenössischen Räte praktisch dem Volk falsches Abstimmungsverhalten vorwerfen. Das ganze beginnt im Bundesparlament, das nicht mehr imstande ist, die anstehenden Themen sach- und zeitgerecht zu behandeln – siehe Minders Abzocker-Initiative. Es ist offenbar auch nicht mehr imstande, jene Themen in seine Parlamentsarbeit aufzunehmen, die die Menschen in unserem Land wirklich beschäftigen – siehe Verwahrungs- und Minarettinitiative. Und es ist schon gar nicht mehr imstande, mit seinen eigenen Entscheiden dafür zu sorgen, daß das „übergeordnete Wertesystem“ in Vorlagen und Gegenvorschlägen eingehalten wird – siehe Ausschaffungsinitiative.

Selbst wenn man gewisse Schwierigkeiten erkennt, die die direkte Demokratie mitsichbringt, so muß man in unserem System akzeptieren, daß das Volk das letzte Wort hat. Es wäre die vornehme Aufgabe der Eidg. Räte, die Anliegen und Probleme der Bevölkerung früh aufzunehmen und in einem politischen Dialog zwischen Volk und Volksvertretung einer guten Lösung zuzuführen. Zuwarten, bis der Kessel überkocht und dann der Dampfdruck über solche Volksinitiativen entweicht, war von jeher keine reife Leistung in der Politik.

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