Unglaublich, wie rasch sich die Szenerie verändern kann. Bloß vier Wochen Auslandsabwesenheit haben gereicht, um in der Debatte über die Durchsetzungsinitiative der SVP eine völlig andere Stimmungslage zu erleben. Noch in der ersten Januarhälfte konnte man die allermeisten Diskussionsbeiträge der Gegner in der Kategorie «von Juristen für Juristen» ablegen. Nun muß ich zu meinem Erstaunen feststellen, daß ein beachtlicher Teil der Gegner jedes Maß verloren hat. Also ausgerechnet jene, die bei der Initiative beanstanden, daß sie das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletze, haben selbst den Bezug zur vernünftigen politischen Verhältnismäßigkeit verloren. Den Befürwortern, und dort insbesondere der SVP, wird «Haßkampagne» vorgeworfen. Das geschieht in einer Verve und in einer Diktion, die von nichts anderem mehr angetrieben sein kann, als von Haß.
Man schreckt auch nicht vor grotesken Übertreibungen zurück. Da wird dargestellt, es würde zum ersten Mal – also zum allerersten Mal, wirklich – mit diesem Text «Gesetzgebung» in die Bundesverfassung geschrieben. Völliger Blödsinn. Wir haben schon lange Regelungen in der Verfassung, die eigentlich auf die Stufe von Gesetz oder gar Verordnung gehören. Die sind z.T. durch Initiativen hineingekommen, so das Minarettverbot. Es gibt aber auch solche Detailbestimmungen, die nicht stufengerecht und ohne Zutun von Parteien entstanden sind, z.B. bei der Verwahrungsinitiative. Aber noch viel besser ist, daß unsere Bundesverfassung Detailbestimmungen enthält, die vom Parlament so in den Verfassungstext hineingesetzt wurden, um im politischen Aushandeln mehrheitsfähige Vorlagen hinzubekommen.
Noch ärgerlich ist, daß diese entfesselten Gegner – es gibt auch besonnene – behaupten, diese Abstimmung würde bei einem Ja den Rechtsstaat zerstören. Es sei daran erinnert, daß diese Durchsetzungsinitiative durch den völlig normalen hochrechtsstaatlichen Prozeß hindurch gelaufen ist: Unterschriften innert einer bestimmten Frist zusammengebracht, von Verwaltung und Bundesrat vorgeprüft, dem Parlament zugeleitet, von diesem für rechtsgültig erklärt, und nun dem Entscheid von Volk und Ständen unterstellt.
Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, daß die Initiative die Gewaltenteilung tangiert, aber das ist weiß Gott nicht der einzige Fall. Viel schlimmer finde ich, daß sich der Bund immer wieder über die Bundesverfassung hinwegsetzt und sich ohne Verfassungsgrundlage in die Aufgaben und Zuständigkeiten der Kantone einmischt. Der Bund verstößt damit laufend gegen die Artikel 42, 43 und 43a der Bundesverfassung. Erstaunlich, daß sich in diesem Zusammenhang alle diese Topjuristen nie melden, die sich bei der DI so enervieren.
Ebenso überzogen ist die Behauptung, daß diese Initiative per se der Personenfreizügigkeit widerspreche. Selbst die EU-Staaten kennen das Instrument der Ausweisung, ohne Rücksicht darauf ob es sich um Angehörige anderer EU-Staaten oder sonstiger Länder handelt. Frankreich hat unlängst die Schraube deutlich angezogen, und selbst in der willkomenskulturaffinen Bundesrepublik haben Minister und Regierungsparteien schon laut über eine Verschärfung dieser Bestimmungen nachgedacht. Wenn es also schon innerhalb der EU die Personenfreizügigkeit nicht verletzt, wie soll es dann in bezug auf die Schweiz so sein?
Unerträglich finde ich diese Stimmungsmache, wonach die Schweiz im deutschen Jahr 1933 angelangt sei. Das, was gewisse Gegner als Rettung des Vaterlandes auszugeben versuchen, ist bei Lichte besehen nichts anderes als der plumpe Versuch, eine ihnen nicht genehme demokratische politische Kraft der Schweiz mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen. Den Höhepunkt hat nun dieser unbedarfte BDP-Präsident Landolt geliefert: Ein Schweizerkreuz mit angeschmierten Pinselstrichen zum Hakenkreuz verunstaltet!
Diese Haßszenerie, die ganz und gar nicht zur schweizerischen Kultur der politischen Auseinandersetzung passen will, lädt fast dazu ein, sich für die Durchsetzungsinitiative auszusprechen.
Aber ich sage trotzdem: Nein.
Dafür gibt es ein paar wirkliche Gründe:
- Diese Initiative ist nicht zu Ende gedacht und generiert nur neue Probleme, auch wenn viele im Abstimmungskampf angeführten Beispiele danebenliegen.
- Diese Initiative erzeugt falsche Erwartungen und nährt Illusionen. Ausweisungen zu verfügen ist das eine, Ausweisungen dann effektiv umzusetzen, ist etwas ganz Anderes.
- Aus dieser Diskrepanz entstehen zusätzliche administrative Aufgaben und massive Zusatzkosten, denen kein Ertrag gegenübersteht.
- Diese Initiative ist unnötig, denn das in der Zwischenzeit verabschiedete Gesetz zur Ausschaffungsinitiative von 2010 ist sehr streng gefaßt, respektiert aber die Menschenrechte.
- Diese Initiative ist eine Zwängerei, nicht zuletzt, weil sie die in der Ausschaffungsinitiative gesetzte Umsetzungsfrist überlaufen und die gesamte Geschichte noch einmal aufladen wollte.
- Und dann gibt es für mich noch einen letzten Grund, der seltsamerweise gar nicht diskutiert wird. Es ist kein materieller Grund zum Thema, es ist für mich mehr ein methodischer Grund für unsere Demokratie. Unsere direktdemokratischen Instrumente, insbesondere das Initiativrecht, sind in der heutigen massenmedialen, elektronischen und Werbewelt viel zu einfach zu benutzen. Das bringt für unseren Staat schon das große Problem, daß die normalen Prozesse der Gesetzgebung immer wieder mit neuen Initiativen überladen werden. Dadurch entstehen auch gewaltige Widersprüche und politische Konflikte. Gerade bei der Umsetzung von Initiativen müssen meistens solche Widersprüche bewältigt werden. Daraus resultiert auch, daß gewisse Vorstellungen oder Versprechungen, die zur ursprünglichen Initiative abgegeben wurden, so nicht ganz erfüllt werden können. Wenn wir es nun einreißen lassen, daß man jeder Initiative umgehend noch eine «Draufsattelungsinitiative» hinterherschicken kann, dann wird unser Staat irgendwann vollends handlungsunfähig, weil wir nur noch von Initiativ- zu Initiativabstimmung in gleicher oder ähnlicher Sache torkeln werden.
15.02.2016
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